Grimes_Titel

Ashley Kahn:
A Love Supreme: John Coltranes legendäres Album

 

Rogner & Bernhard Berlin 2004

880 Seiten; Auflage: 1 (15. Dezember 2004)

ISBN: 978-3807700304

 

Über das Werk:

„Endlich erfahren wir die Geschichte von John Coltranes Meisterwerk.” (The Times)

„Die bestmögliche Einführung in Coltranes Leben und Werk … Eine Fundgrube! Alles, was Sie wissen wollen – hier ist es festgehalten und aufbewahrt.”

„Die Jazzliteratur entwickelt sich offenbar immer mehr zur hohen Kunst, und Kahn weist den Weg dorthin” (Library Journal).

„Dieses Buch ist ein absoluter Höhepunkt der Jazzliteratur und der Musikliteratur insgesamt” (Elvin Jones, Coltranes Schlagzeuger).

 

Anfang der 1960er Jahre: In den Jazzclubs und Tonstudios herrscht Aufbruchstimmung. Musiker wie Miles Davis, Ornette Coleman, Eric Dolphy und Charles Mingus experimentieren und improvisieren frei drauf los. Aber kaum jemand nutzt die neuen Freiheiten so intensiv wie das Quartett um den Saxophonisten John Coltrane. Vielumjubelte Auftritte in den USA, Europa und Japan machen die Band innerhalb weniger Jahre weltbekannt.

Als Coltrane und seine Musiker Ende 1964 in New York mit den Aufnahmen für eine neue Platte beginnen, stehen sie auf dem Gipfel ihres Ruhms. Im Verlauf einer einzigen Session am Abend des 9. Dezember gelingt Coltranes Musikern eine Einspielung, die in der Jazzgeschichte beispiellos geblieben ist: Die Suite „A Love Supreme” bringt die spirituelle Sehnsucht einer ganzen Generation zum Klingen. „Es war die Ära der östlichen Religionen, eine Zeit voller Spiritualität und Hare Krishna, und das war Coltranes Matrix – er traf genau diese Stimmung” (Archie Shepp).

Gleich nach seiner Veröffentlichung wird „A Love Supreme” als Meisterwerk gefeiert, und an dieser Einschätzung hat sich bis heute nichts geändert: Eine jede Generation von Jazzenthusiasten und Nachwuchsmusikern hat das Album neu für sich entdeckt. „Alte Leute können damit genauso etwas anfangen wie kleine Kinder … Jedesmal, wenn jemand diese Musik hört, berührt sie ihn” (Elvin Jones).

Ashley Kahn analysiert die Entstehungsgeschichte von „A Love Supreme” mit der gleichen Intensität wie in seinem Buch über Miles Davis’ „Kind of Blue”:

„Beeindruckend gründlich, ja großartiger noch als sein Porträt der Kind of Blue’-Sessions” (Buffalo News). Minutiös rekonstruiert er den Verlauf der Studioaufnahmen („äußerst lesenswert”, Print run), klärt Gerüchte um die lange verschollenen Tonbänder, „lässt uns eine faszinierende Fülle neuer Details entdecken” (The Wire) und trägt zahllose Stimmen von Musikern, Plattenproduzenten, Zeitzeugen zusammen, die ein Bild von der epochalen Wirkung des Albums vermitteln. „Eine fesselnde Mischung aus Sozialgeschichte, Künstlerbiografie und Musikanalyse” (The Tenessean).

Unveröffentlichte Interviews, ein Vorwort von Elvin Jones (er war dabei) und eine Fülle beeindruckender Fotos runden den Band ab. „Das ist die bestmögliche Einführung in Coltranes Leben und Werk” (Uncut). „Kahns Buch ist ein Lesegenuss, die Fotografien sind großartig” (The Guardian). Seattle Weekly hat Kahns Werk als „eines der überzeugendsten Bücher des Jahres” ausgezeichnet. Rogner und Bernhard hat es jetzt übersetzen lassen.

Autor

Ashley Kahn, geb. 1960, ist freier Schriftsteller und Publizist. Seine Artikel sind in einer Vielzahl von Zeitungen und Zeitschriften erschienen, darunter in „The New York Times”, „TV Guide”, „Jazz Times”, „Jazz”, “MOJO”, „The Guardian” und „GQ”. Kahn ist preisgekrönter Autor der Bestseller „Kind of Blue: Die Geschichte eines Meisterwerks” und „A Love Supreme: John Coltranes legendäres Album”. Er lebt in New Jersey/USA.

Quelle: http://www.rogner-bernhard.de/titles/show/362

 

Wir sind die Welt
von Konrad Heidkamp

Ashley Kahn erzählt, weshalb „A Love Supreme”, John Coltranes Jahrhundertwerk, der Maßstab für die utopische Kraft von Musik bleibt, selbst nach 40 Jahren noch

Und die Frauen? „Er kümmerte sich nur noch um seine Musik. Er dachte an nichts anderes. Die Schönheit einer Frau ließ ihn kalt, denn er war schon von der Schönheit der Musik verführt”, krächzte der ladies’ man Miles Davis heiser und kopfschüttelnd und doch mit jenem bewundernden Unterton, der in allen Äußerungen mitklingt, die den Saxofonisten John Coltrane beschreiben. „Gute Geschichten” gibt es kaum über den Vollender des Jazz zu erzählen, im Gegensatz zu den Skandalen Charlie Parkers, dem Begründer des modernen Jazz, ewiger Traum des Boulevards, voll Sex und Drogen. Obwohl auch John Coltrane lange an der Nadel hing, das Heroin mit Alkohol bekämpfte und – bis 1957 – beidem treu blieb, umwehte seine Sucht nie der Hauch von Exzess. Vielmehr wirkte sie tragisch, eine notwendige Sünde, um die künftige Läuterung vorzubereiten.

Wie also soll einer schreiben über einen Künstler, den jener Ernst umgibt, den man oft mit Humorlosigkeit verwechselt, der zum Inbegriff einer Spiritualität wurde, die in der höchsten Liebe ihren Ausdruck fand – in A Love Supreme, wie John Coltrane sein legendäres Album 1965 nannte? „Wie Bach und Mozart erhob Coltrane Musik aus dem säkularen in den Bereich ernster, religiöser Weltmusik”, zitiert der amerikanische Autor Ashley Kahn den Saxofonisten Archie Shepp. Kahn spaltet sich in seinem Buch in drei Personen: den musikalischen Verehrer, den Reporter der religiösen Unter- und Obertöne und den bienenfleißigen Sammler aller auffindbaren biografischen Krumen. Ein umso schwierigeres Unterfangen, da es nur um eine einzige Schallplatte geht, ein Werk von 33 Minuten Dauer, das am 9. Dezember 1964 zwischen 20 Uhr und Mitternacht aufgenommen wurde und zur Essenz des 20. Jahrhunderts zählt. Vergleichbar nur jener Jazzplatte, der Ashley Kahn sein vorangehendes Buch widmete: Kind Of Blue, eine Schöpfung des Miles Davis Sextetts, zu dem auch John Coltrane zählte.

Ein Gongschlag wie Donner, der hier dem Blitz vorausgeht, reißt für A Love Supreme den Himmel auf, und unmittelbar setzt das nasale Tenorsaxofon ein, als Fanfare über Klavierakkorden und den Becken des Schlagzeugs, die wie prasselnder Regen überleiten zu vier Tönen, vom Bass gezupft, vier Tönen, die zur mitsingbaren Losung werden – da da – dieh – da – a – love – su – preme. Es ist ein Bluesmotiv, ein Riff, das Acknowledgement, den ersten Teil der Love Supreme- Suite, zum Synonym fürs Ganze macht. John Coltrane wechselt die Tonart, setzt noch einmal an und führt die „Anerkennung” in Gefilde zwischen sanfter Poesie und intensiver Feierlichkeit. In allen möglichen Tonarten variiert er fünf Minuten lang über dem Ostinato des Basses, bis er das Saxofon absetzt und die Musik Wort wird. A love supreme, singt er mit tiefer Stimme, a love supreme, a love supreme , zwanzigfaches Mantra eines Geretteten, der zum Künder wird.

Nichts konnte 1965 überraschender kommen als das Bekenntnis zu jenem Schöpfer, der ihn 1957 gerettet hatte. Modern Jazz, das bedeutete – nach der Hektik des Bebop und den Sonnenbrillen des Cool Jazz – die klassische Avantgarde eines Cecil Taylor, die fröhliche Freiheit eines Ornette Coleman, das arrogante Feuer eines Miles Davis oder die politische Aggression eines Charles Mingus, aber nie die religiöse Offenbarung einer höheren, allumfassenden Liebe. „Thank you God”, schrieb Coltrane in seinem Gedicht, das in die aufklappbare Innenseite der Plattenhülle gedruckt war, einem Psalm. Doch es war nicht nur der Gott des Christentums in dieser Mischung aus östlichen Weisheiten, Bibelzitaten und Anrufungen, es war der Lobpreis der Liebe, im Tonfall des Predigers, dem die Wirkung auf den Menschen wichtiger ist als das Abstraktum im Himmel, „thank you God”.

Sommer 1964 – als die USA noch einmal Hoffnung schöpften

Ashley Kahn breitet das Szenario aus, in das A Love Supreme eintrat, Bob Dylan behauptet The Times They Are A-Changing, Sam Cooke singt Change Is Gonna Come, im Juli wird das Bürgerrechtsgesetz von Lyndon B. Johnson unterzeichnet, im Oktober erhält Martin Luther King den Friedensnobelpreis, Cassius Clay wird Boxweltmeister, und Vietnam ist im Bewusstsein Amerikas noch ein kleiner Unruheherd in Südostasien. Als schöpften die USA noch einmal Hoffnung nach der Ermordung Kennedys, als atme die Welt auf, bevor Wut und Enttäuschung über die zerstörten Hoffnungen hereinbrechen. In diesem Sommer 1964 wird auch John Coltranes Sohn John junior geboren, von seiner zweiten Frau, der Pianistin Alice, und er unterbricht für eine Woche den nicht enden wollenden Strom von Aufnahmen, Tourneen, manischem Üben Tag und Nacht. Seine erste Frau Naima meinte in diesen Jahren einmal, ihr Mann sei „neunzig Prozent Saxofon”. Er hatte sich nach seinem Drogenentzug wie ein Besessener in die Musik gestürzt, als ahnte er, dass ihm als 30-Jährigem nur noch zehn Jahre blieben, die verlorene Zeit nachzuholen. Nun findet er Ruhe, zieht sich ins oberste Stockwerk seines Hauses im New Yorker Stadtteil Long Island zurück, schreibt vier, fünf Tage an einer Suite, die drei Monate später zu Love Supreme wird. Ein unbekanntes Foto in Ashley Kahns Buch zeigt John Coltrane, stolz mit dem Baby auf dem Arm, lächelnd, das Familienalbum als Grundlage musikalischer Analyse.

Als gäbe es jenen Moment, in dem sich die Avantgarde ein letztes Mal im Gewand der Tradition zeigt, die Energie sich in Spiritualität verwandelt und die Suche nach dem eigenen Ton seine Form und Hülle findet. Es war jenes Quartett aus dem energiegeladenen Schlagzeuger Elvin Jones, dem treibenden Bassisten Jimmy Garrison und dem rhapsodisch verdichtenden Pianisten McCoy Tyner, dasseit 1962 dem harmonisch ausufernden Saxofonisten eine Heimat gab. Die Beatles, das Miles Davis Quintet, das La Salle Quartett, die John Ford Stock Company mögen vergleichbare Jahrhundertformationen gewesen sein. Coltranes im Sommer 1964 veröffentlichte Platte Crescent hörten viele als säkularisierten Vorläufer zu A Love Supreme, und doch waren es dort einzelne Kompositionen, sie hatten nicht den Atem der vierteiligen Suite. Acknowledgement – Resolution – Pursuance – Psalm nannte Coltrane die Sätze (Anerkennung, Entschlossenheit, Streben und Psalm), sie klangen wie die Verkündigung eines Heilsplans, ein steter Wechsel von Spannung und Entspannung – Verinnerlichung und Entäußerung waren im Gleichgewicht. „Musik ist eine Widerspiegelung des Universums, als wäre es eine Miniatur des Lebens”, sagte Coltrane Jahre zuvor. „Du nimmst eine Situation aus deinem Leben oder ein Gefühl, das du kennst, und fasst es in Musik.”

Diese Musik glaubt an die Seele, das Recht, die Freiheit

Man trug diese schwarz-weiße Platte mit dem Foto Coltranes wie eine Ikone unter dem Arm, aufgeklappt hing sie als Bild an Wänden, sie wurde zum Peace-Zeichen des Jazz. Und sie markierte auch jenen Punkt, an dem sich das Publikum ein letztes Mal einig sein durfte, bevor es sich in alle Winde zerstreut: in den elektrifizierten Jazzrock, die Konterrevolution der Traditionalisten, die Egomanik des Pop oder die digitalisierten Samples, bei denen der Dank an Gott ins Kleingedruckte des Booklets abgesunken ist. Man konnte den kosmisch religiösen Tonfall Coltranes abtun (Miles Davis: „Kam gut an bei Leuten, die auf Frieden machten, Hippies und solche Typen”), man durfte in ihm aber auch jene höchste Form von Ernsthaftigkeit hören, der Musik fähig ist (Patti Smith: „Es erfüllt das Bedürfnis des Menschen nach Gebet und vermittelt ein Gefühl moralischer Autorität auf ganz und gar bescheidene und spirituelle Weise”). Die Bewunderer, die Ashley Kahn hier versammelt und zitiert, reichen von Bono bis Santana, von Peter Buck zu Terry Riley, den klarsten Begriff von der Wirkung dieser schwarzen Platte – auch auf die weiße Popkultur der folgenden Jahrzehnte, von Woodstock bis Live Aid – gibt der Jazzsaxofonist Frank Lowe: „Es ging dabei nicht um ›Wir gegen den Rest der Welt‹, sondern darum, dass … wir die Welt sind.”

John Coltrane konnte und wollte den Augenblick vom Dezember 1964 nicht mehr wieder holen. Bei der einzigen Live-Aufführung der Suite im Juli 1965 in Antibes war Trane, wie er genannt wurde, musikalisch schon weitergezogen, er spielte „Schönheit mittels Schrecken”, wie der französische Kritiker Comolli notierte. Malcolm X war tot, Martin Luther King führte den Marsch auf Alabama an – Aufschrei und Schmerz zogen nun ein ins Hymnische und Lyrische. Und so verwandelte sich auch der Pointillismus aus Tönen, mit dem Coltrane seine Klänge malte, in Action-Painting. Mit schrillen Tonkaskaden und Huplauten jagte er nun durch immer exzessivere und intensivere Stücke, die ihn – bis zu seinem Tod, als er im Juli 1967 an Leberkrebs starb – einem großen Teil seines Publikums entfremdeten.

Im Dezember 1966, als John Coltrane mit Platten wie Ascension oder Meditations zum glaubwürdigen Zeugen der Jazzrevolution geworden war, widmete die Zeitschrift Newsweek dem Phänomen eine große Geschichte. „Diese Musik glaubt an die Seele, das Recht und die Freiheit”, schrieb Nat Hentoff. „Es gibt darin einen geradezu anrührenden Glauben an die Musik als reinigende, klärende, befreiende Kraft, so als wären die Jazzmusiker die verkannten Gesetzgeber der Welt.” Mit anderen Worten, 2005 erscheint A Love Supreme reichlich unzeitgemäß und damit unvermindert utopisch.

Quelle: http://www.zeit.de/2005/04/Coltrane?page=all
© DIE ZEIT 20.01.2005 Nr.4
(Abdruck mit freundlicher Genehmigung)

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